Würde jemand zu mir sagen: „Schon Deine bloße Erscheinung inspiriert mich!“, würde ich höchstwahrscheinlich rot anlaufen, so geschmeichelt wäre ich. Bislang ist das aber noch nicht vorgekommen (was nicht ist, kann ja noch werden).
Behinderte Menschen allerdings scheinen diesen Satz öfter zu hören, wie hier, hier oder hier zu lesen ist. Sie empfinden die Zuschreibung „inspirierend“ – im Gegensatz zu den meisten Normalos – als reduzierend, stereotyp und oberflächlich. Am Anfang habe ich diese Empörung nicht verstanden. Mir ist erst langsam klar geworden, dass das Bild vom behinderten Menschen mit seinem Lebensmut, seiner Zähigkeit und vielleicht auch Genügsamkeit ihm einerseits natürlich nicht gerecht wird – und andererseits allzu oft dazu herhält, ein vorwiegend nichtbehindertes Publikum von der eigenen Mittelmäßigkeit abzulenken und womöglich zu mehr Dankbarkeit und Optimismus zu inspirieren.
Ich möchte erzählen, was dieses trügerische Klischee mit meinem eigenen Leben zu tun hat: Vor rund zehn Jahren hatte ich auf einer Party einen Mann kennen gelernt; seine lockere Art und wie er über seine Behinderung Witze riss, fand ich einfach umwerfend. Ich musste Tage lang an ihn denken und ließ mir schließlich von einem Bekannten seine Telefonnummer geben. Ich rief ihn an und wir trafen uns regelmäßig. Irgendwie hatte jedes Treffen einen besonderen Zauber und heute frage ich mich, inwiefern meine unbewussten Vorurteile gegenüber Behinderten zu meiner Verliebtheit beitrugen. War ich deshalb so begeistert von ihm, weil in meiner (beschränkten) Vorstellungswelt ein behinderter Mann zurückhaltend, einsam und komplexbeladen zu sein hatte, und wenn einer – so wie dieses Exemplar – vor Aufgeschlossenheit und Witz nur strotzte, ein Superhero sein musste?
Eins ist sicher: Ich war entzückt. Dabei hatten wir objektiv kaum etwas gemeinsam. Er verbrachte zum Beispiel Stunden mit Rollenspielen im Internet. Normalerweise hätte mich so ein Hobby total abgetörnt, aber ich dachte mir, mit seiner Behinderung sei es sicher nicht so leicht, rauszugehen und sich in der Menge zu tummeln; da bevorzuge man eben die virtuelle Welt. Andererseits fand ich schon Dinge, die mich bei jemand anderem nicht großartig beeindruckt hätten, „angesichts seiner körperlichen Beeinträchtigung“ bewundernswert und deutete sie als Anzeichen seiner Charakterstärke: dass er längere Zeit durch Vietnam gereist war, in einem großen Unternehmen eine verantwortungsvolle Position hatte etc. Man sieht in seiner Verliebtheit den anderen ja immer durch die rosa-rote Brille, aber ich frage mich, inwieweit ich mich auch von seiner Behinderung blenden und zu schändlicher Idolatrie hinreißen ließ.
Nach einer Weile bemerkte ich, dass seine lockere Art und die Witze über seine Behinderung (die sich ziemlich schnell wiederholten) zu einer von Klein auf erprobten Strategie gehörten, mit der er den Leuten ihre Berührungsangst nahm. Die Strategie kam mir logisch und adäquat vor, aber ich sah darin nicht mehr einen Ausdruck eines Ausnahmecharakters, dem ich mich zu Füßen werfen müsste. Es ist schwierig, meinen Sinneswandel zu beschreiben, aber die Faszination hatte sich für mich eben aufgebraucht. Ich erkannte, dass der Mann freilich über Wortwitz, Schlagfertigkeit und Selbstironie verfügte, aber sie erschienen mir antrainiert – und zwar aus einer ganz bestimmten Notwendigkeit heraus. Ich fühlte mich plötzlich sehr ernüchtert; am Ende war er doch nicht so beeindruckend, wie ich gedacht hatte …?!
Zudem begann es in mir zu rumoren, wie sehr er eigentlich mich als Menschen wollte oder mich als Nichtbehinderte, als Aushängeschild.
An dieser kritischen Stelle kann in einer Beziehung die echte Liebe anfangen. Man sieht den anderen klarer und nimmt ihn dennoch so, wie er ist. So erging es mir damals nicht, denn das, was ich sah, bot keinen gemeinsamen Boden. Wir hatten doch ziemlich verschiedene Vorstellungen von der Welt und es gab so einiges, was mich mittlerweile an ihm nervte. Schließlich trennten wir uns.
Ich kann bis heute schlecht einordnen, welche Rolle seine Behinderung für mich eigentlich gespielt hatte. Hat sie uns zusammen gebracht oder stand sie trennend zwischen uns? In einer Hinsicht habe ich sie auf jeden Fall instrumentalisiert: Ich hatte damals große Angst davor, ein banales Leben zu führen und war überzeugt, dass ein Leben mit diesem Mann niemals banal sein könnte. Sobald wir auf die Straße traten, zogen wir alle Blicke auf uns.
Es ist sogar gut möglich, dass man uns inspirierend fand.
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